Ein Plädoyer fürs Anderssein & der sinnvolle Umgang mit Spleens & Allüren!

Es gab zu jeder Zeit Unkonventionelle: Bohèmiens, Dandys, Exzentriker – derzeit aber scheint besonders reges Interesse an den unsteten Geistern zu herrschen. Mehr noch: Sich selbst wichtig zu nehmen, schriller und bunter als die anderen zu sein, Allüren geradezu stolz zur Schau zu tragen, liegt im Trend. Das beweisen alleine mehr als 110 Millionen „My Space“ oder „Facebook“- Eintragungen in Internet.

Wer einen Spleen hat, lebt ihn konsequent … Und tut sich und den anderen damit auch noch Gutes, wie Neuropsychologen aufzeigen: Exzentriker leben besser, sind gesünder. Auch die Soziologie erkennt den Wert der „bunten Vögel“ für die Gesellschaft an. Obwohl auf 10.000 Menschen, so eine Studie, nur einer kommt, der so ist, wie er eben ist, nämlich anders, vermag eben dieser mehr Impulse zu setzen als die Masse grauer Mäuse. Was bedeutet das? Heißt das, dass wir uns alle rasch zum Paradiesvogel mausern sollten, um besser zu leben?. Beispiele werden zeigen, dass die Spleenigsten zwar oft die größten Genies sind, aber auch als die größten „Spinner“ und Außenseiter gelten. Anders sein ist immer eine Gratwanderung. Wir lassen auch Experten zu Wort kommen, die aufzeigen, wo die Grenzen zwischen dem Exzentrischen und Pathologischen liegen, wann ein Tick ungesund wird, und wie man es bemerkt, wenn Luftschlösser zu Gefängnissen werden.

 

„Nichts ist dazu veruteilt, so zu bleiben wie es ist“
Ernst Bloch

Nichts ist unmöglich!

Neuropsychologe David Weeks über den Charakter des Exzentrikers

Über Annoncen hat Weeks tausend Leute ausfindig gemacht, die ihm exzentrisch genug erschienen, um sich über zehn Jahre mit ihnen zu treffen, sie zu untersuchen. Dabei haben sich folgende Eigenschaften herauskristallisiert:

Revoluzzer. Mit ihrer extrem individualisierten Strategie zielen Exzentriker darauf ab, sich der Macht, Kontrolle und/oder Langeweile zu entziehen, unabhängig davon, wie feindselig oder indifferent das Umfeld reagiert. Der vollwertige Exzentriker ist folglich unangepasst und stark durch Neugierde motiviert.

Weltverbesserer. Mit dem „Anspruch, die Welt zu verbessern und die Menschen in ihr glücklicher zu machen“, betreibt er „beglückt ein oder mehrere Steckenpferde“. Das Wort „unmöglich“ kommt in seinem Wortschatz gar nicht vor. Exzentrische Menschen gehen eher intuitiv als analytisch vor, sie interessiert weniger, „was ist, sondern was sein sollte“.

Fanatiker. Weeks weiter: „Wir fanden außergewöhnliche Kreativität, Humor und Nonkonformismus“. Exzentriker sind keine guten Teamplayer. Ihre Hauptmotivation ist die Neugier. „Sie gaben sich einer Sache oder einem Hobby völlig hin, waren oft Einzelkinder.“

Wie viele gibt es? Nach Darstellung des Forschers kommt ein „klassischer, hauptamtlicher Exzentriker“ auf 10.000 Konformisten. Und was denken die anderen 9.999? „Exzentriker in kleinen Dosen sind für die Mitmenschen meist sehr angenehm.“

Geschlechtsunterschiede? Für die Exzentrikerinnen gilt, dass sie tendenziell radikaler, experimentierfreudiger, aber auch verschlossener sind als die Männer.

 

Sei anders – sei glücklich?

Der neue Typus des „sozialen Exzentrikers“

Jetzt fragen wir uns, ob wir nicht unweigerlich ins Chaos abdriften, wenn sich alle nur noch um ihre Spleens kümmern? Macht das die Welt wirklich besser? Das große Interesse am Unkonventionellen ist zweifellos groß, und – das ist in dieser Dimension neu – wir tun es ihnen gleich. Im Internet hat der moderne Selbstdarsteller seine Bühne gefunden, mehr als 110 Millionen „My Space“ oder „Facebook“- Eintragungen beweisen es. Doch was ist Sinn dieser Internet-Netzwerke? Es geht um Kontakt, um Austausch, um Kommunikation. Wir legen Wert darauf, als ganz besonderes Individuum wahrgenommen zu werden. Das passt nicht zum schrillen Einzelgänger“! Optimisten frohlocken und schließen daraus das Ende der Ära reiner Ich-Bezogenheit. Die Selbstfindungsmanie der vergangenen Jahre weiche einem „Wir-Gefühl“, das sich besonders in harten Tagen als nützlich erweist. Selbst der Exzentriker ist nach Dr. Weeks an einer „besseren Welt“ interessiert. Das Ideal ist längst nicht mehr die ICH-AG sondern die AG aus vielen verschiedenen ICHs.

Und was sagen die Realisten? Sie warnen davor, die Grenzen zwischen exzentrischen Lebenskünstlern und durchgeknallten Freaks endgültig und völlig zu verwischen, das Anderssein nicht zu verherrlichen. Denn schließlich nimmt die Zahl der Unzurechnungsfähigen und hemmungs- wie hoffnungslosen Erotomanen leider nicht ab, und fehlgeleitete Exzentrik ist ebenso unerträglich wie die „organisierte“: Exzentriker sein, weil es schick ist führe zu wandelnden Kopien der Originale, sozusagen zu „Monk-Doubles“, mit dem Wunsch aufzufallen um jeden Preis. Da sind sich die Experten einig: Echte Personality, heißt nicht, sich einen Stempel aufzudrücken, der anderen zu Gesicht steht. Wenn das Bild von einem Menschen den Augenblick überdauern soll, muss es echt sein.

Exzentrik des Herzens. Das Thema Exzentrik weckt auch den sozialen Zorn, meist im Zusammenhang mit den Allüren von Stars. O-Ton des „kleinen Mannes“: Ein Hollywoodstar kann sich seine Macken leisten, wer aber ums tägliche Auskommen kämpfen muss, hat andere Sorgen. Der Zorn ist verständlich, und doch hat Exzentrik im weitesten Sinne nicht zwingend mit Geld zu tun. Es gibt eine „Exzentrik des Herzens“, die man sich auch in höchster Not bewahren kann. Denn ex-zentrisch heißt im Grunde nicht mehr als „nicht konformistisch“. So ist und bleibt es völlig außer der Norm, in die Slums von Kalkutta zu gehen um dort Verhungernde aus dem Dreck zu ziehen. Oder denken Sie – aus aktuellem Anlass seines 200. Geburtstags – an den zauderlich-zimperlichen Charles Darwin, der alle vorgezeichneten Berufslaufbahnen verlassen hat, um der Welt seine damals völlig aberwitzige, die ganze Schöpfungsgeschichte umwälzenden Theorie von der Evolution aufzutischen.

Zweielerlei Maß. Zugegeben verteilen wir unsere Zustimmung zu exkenterischen Zeitgenossen nicht nach dem Grundsatz „gleiches Recht für alle“. Die Toten und Berühmten haben es leichter. Vor allem in den Bereichen Musik, Kunst und Mode. Ein Lagerfeld darf alles sein, nur nicht gewöhnlich. Einer Vivien Westwood verzeiht man alles, nur nicht Konformität. Sogar die hoffnungslose Amy Winehouse bleibt in der Gunst, solage sie nur schräg ist. Wer auf Konventionen pfeift und so ganz und gar aus der Reihe tanzt ist also besser entweder ein VIP oder tot. Sonst gilt er als hoffnungsloser Spinner. Das Gute daran: Dem echten und wahren Exzentriker ist das völlig egal. Er ist nicht wie er ist, um anderen zu gefallen, sondern weil er nicht anders kann und will. Und er handelt danach. Schwimmen lernt man schließlich im Wasser!

 

Titelfoto: Pixabay