In dieser Folge: Ihr Hund ist verhaltensgestört – aber ist er das wirklich? Verhaltensprobleme neu definieren
Tierflüsterer Laurent Amann ist Verhaltensbiologe, Tierkommunikator und schamanischer Heiler. Der Autor des aktuellen Ratgebers „Die geheime Seele meines Hundes“ (mvg 2017) sowie des neu erschienenen Taschenbuches „Mein Hund hat eine Seele“ (Goldegg 2019) beobachtet seit vielen Jahren, dass wir von Hunden viel über uns selbst lernen können. Die Vierbeiner können uns dabei helfen, glücklicher und gesünder zu leben.
»Ich bin kein Problemhund!«, würde ein Hund sagen, wenn wir ihn verstehen könnten. Im Alltag mit Hunden sparen wir aber mit diesem Ausdruck nicht. Mittlerweile bekommt nahezu jeder Hund den Stempel »Problemhund« aufgesetzt. Tiertrainer und -ärzte zögern nicht mit der entsprechenden Diagnose. Und auch ein Großteil der Hundebesitzer selbst ist der Ansicht, dass bei ihrem Hund eine schwere Verhaltensstörung vorliegen muss. Was aber, wenn diese Diagnosen falsch sind und nicht der Wirklichkeit entsprechen? Oftmals wird ein natürliches Verhalten als krank dargestellt, weil es nicht erwünscht ist. Uns scheint das Denken in Diagnosen manchmal das eigentliche Problem zu sein.
Wenn Sie einem Menschen sagen, dass er psychisch krank sei, wird er sich gegen Ihre Aussage wehren. Er wird sich verletzt und unfair behandelt fühlen. Hunden geht es genauso. Sie betrachten sich selbst dann mit den Augen ihres Besitzers als nicht normal oder sogar unerwünscht. Das ist das Schlimmste, was einem Hund passieren kann. Denn Hunde bemühen sich sehr, ihrem Herrchen und Frauchen alles recht zu machen.
Doch ist ein »Problemhund« tatsächlich gescheitert? Schlägt man das Wort »verhaltensauffällig« nach, findet man Definitionen wie etwa: »in seinem Verhalten vom Normalen, Üblichen in auffälliger Weise abweichend«. Psychologen und Pädagogen sprechen von einer »nicht adäquaten Reaktion« oder einem »fremd erscheinenden, wenig sinn- und zweckvollen Verhalten«. Verhaltensauffällig ist ein Lebewesen, wenn es »über einen längeren Zeitraum zu häufig, stark und hartnäckig ein Verhalten zeigt, das von anderen entweder als schwierig oder sogar störend empfunden wird«. Von »Scheitern« ist nicht die Rede, wohl aber von »stören« und von »nicht adäquat«. Kein Wunder, dass es so viele verhaltensgestörte Hunde und Menschen gibt. Wird bei näherer Betrachtung nicht nahezu jeder als »gestört« bezeichnet, dessen Verhalten der jeweiligen Mehrheit nicht passt? Wenn Menschen mit einem bestimmten Verhalten eines Hundes nicht umgehen können, beauftragen sie häufig einen Hundetrainer, der das als störend empfundene Verhalten wegtrainieren soll. Oder sie lesen Bücher, die ihnen zahlreiche Tipps geben, wie sie einen braveren und folgsameren Hund bekommen. Leider bleiben diese Tipps oft wirkungslos. Der Grund: Vielleicht ist der Hund gar nicht gestört, sondern völlig gesund?!
Vielleicht haben die Besitzer sein Verhalten missinterpretiert? Wahrscheinlich hat sogar unsere ganze Gesellschaft Regeln aufgestellt, wie ein Hund sich »normalerweise« zu benehmen hat, basierend auf menschlichen Bedürfnissen und Wünschen, ohne sich dabei die Frage zu stellen, was für einen Hund gesund und natürlich ist. Stellen Sie sich vor, Ihnen fällt es sehr schwer, sich zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Sie sind ununterbrochen in einem Hamsterrad, in dem Sie ständig rennen und rennen. Sie sind dauerbeschäftigt und gönnen sich keine Verschnaufpause. Vielleicht schätzen Sie dies als völlig normal ein und werden von Ihren Mitmenschen für Ihren Fleiß gelobt. Gleichzeitig haben Sie einen Hund zu Hause, der den ganzen Tag nur schlafen möchte. Er möchte weder durch den Wald joggen noch Intelligenzaufgaben lösen oder schnell zwischen zwei Terminen mit Freunden essen gehen. Er will nur schlafen, fressen, ganz langsam spazieren gehen und dann wieder schlafen. Sie sind fassungslos. Sie verstehen nicht, wie man sich den ganzen Tag lang so gehen lassen kann. In Ihren Augen ist dieses Verhalten nicht normal. Sie sind davon überzeugt, dass es Ihrem Hund nicht gut geht, dass er verhaltensgestört, vielleicht sogar depressiv ist, oder Sie überlegen, ob er an Burn-out leidet. Sie grübeln, was Sie dagegen tun können, und holen sich einen Dogsitter ins Haus, der mit Ihrem Hund täglich ein strenges Beschäftigungsprogramm absolviert. Zusätzlich besorgen Sie Ihrem Vierbeiner Vitaminpräparate und modernes Superfutter. Tierärzte, Physiotherapeuten, Hundetrainer – alle werden zu Hilfe gerufen, um Ihren Hund wieder ins Leben zu holen. Er soll wieder gesund werden. Doch in Wirklichkeit ist er nie krank gewesen. Höchstwahrscheinlich leidet er genau jetzt unter Stress, der volle Terminkalender ist gegen seine Natur. Er war als Faulenzer einfach glücklich und zufrieden. Dieses Verhalten war für ihn ganz natürlich. Sie sind es, der aus irgendeinem Grund nicht damit klarkommt. Und das weiß Ihr Hund und fordert Sie heraus, ganz genau hinzuschauen. Vielleicht hat nicht Ihr Hund ein Problem, sondern Sie haben es, und zwar mit dem Thema Ruhe und Entspannung.
Stellen Sie sich nun vor, Sie wären von Natur aus ein Couch-Potato und könnten unter der Woche mit gutem Gewissen Ihre lange Mittagspause gemeinsam mit Ihrem faulen Hund in der Sonne liegend verbringen. Dann kämen Sie niemals auf die Idee, dass mit diesem Hund irgendetwas nicht stimmt. Er kann sich tief entspannen, genau wie Sie. Er braucht wenig Action, genau wie Sie. Auch andere Hundebesitzer, die sich ausreichend Ruhe, Rückzug, Erholung und Schlaf gönnen, würden Sie darin bestätigen, wie angenehm und glücklich Ihr Hund wirkt. Der gleiche Hund, zwei verschiedene Menschen, zwei verschiedene Einschätzungen seines Wesens. Von verhaltensgestört zu völlig normal und glücklich.
Wollen Sie Gefahren einer Fehldiagnose vermeiden, so sollten Sie das Wort »Verhaltensproblem« ganz neu definieren. Das Verhalten eines Hundes ist dann eine Verhaltensstörung, wenn es den Hund selbst mental, psychisch, seelisch oder körperlich belastet oder ihm schadet. Belastend und schädlich ist »ein anhaltender, wiederkehrender Zustand, in dem sämtliche Stresshormone ausgeschüttet werden, die Psyche mit Angstgefühlen oder anderen Belastungen überfordert ist und der Körper nicht fähig ist, diese angemessen zu verdauen«. Ihr Hund hat also nur dann ein Verhaltensproblem, wenn er selbst unter seinem Verhalten leidet. Nicht unbedingt dann, wenn Sie mit seinem Verhalten nicht gut können oder es Sie belastet. Macht Ihr Hund etwas, was Ihnen nicht gefällt, dann ist dies als »unerwünschtes Verhalten« zu bezeichnen: ein Verhalten, mit dem Sie persönlich oder Ihre Umwelt nicht gut zurechtkommen.
Ein Beispiel: Das Beschützerverhalten vieler Hunde ist völlig normal und natürlich. Es ist keine Verhaltensstörung, wenn Ihr Hund nicht zulässt, dass sich jemand Fremder Ihrem Liegeplatz in der Sonne nähert. Es ist auch keine Verhaltensstörung, wenn Ihr Hund dazwischengeht, wenn eine für ihn fremde Person auf Sie zukommt, Ihnen nahekommt und Sie umarmt. Über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende wurde ihm angezüchtet, sein Territorium und seinen Besitzer, also Sie, zu beschützen. Und das wird er tun. Das heißt nicht, dass Sie sein Beschützerverhalten zulassen müssen und sich Ihnen niemand Fremder nähern darf. Ihr Job ist aber, Ihrem Hund zu zeigen, dass es in Ordnung geht, wenn ein Fremder Ihnen näherkommt. Sie müssen ihm deutlich machen, dass keine Gefahr besteht. Außerdem sollten Sie signalisieren, dass Sie die Situation unter Kontrolle haben und sich Ihr Hund entspannen kann. Machen Sie sich klar, dass Ihr Hund kein gestörtes Verhalten zeigt, sondern ein natürliches. Und finden Sie dann ein alternatives Verhalten, das er an den Tag legen soll. Ein Alternativverhalten, mit dem Sie und Ihr Hund gut leben können.
Üben Sie dieses neue Verhalten gemeinsam ein.
Im nächsten Beitrag: Die drei Schritte, die Ihnen dabei behilflich sind, mit unerwünschtem Verhalten Ihres Hundes weise, schonend und bewusst umzugehen.
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https://wellness-magazin.at/living/der-hund-ein-treuer-menschenkenner-1/