Schulterschmerzen sind in den letzten Jahrzehnten zu einer wahren Volkskrankheit avanciert. Einer der Hauptgründe liegt laut dem renommierten Wiener Unfallchirurg und Sportarzt Dr. Roman Ostermann am Dauersitzen und dem damit oft einhergehenden Ungleichgewicht der Muskulatur. Ein Check der Stellung der Schulterblätter und ein Test mit dem Daumen geben eine erste Einschätzung, ob dem Schulterleiden eine Dysbalance zu Grunde liegt.
Das Leben ist ein Sitzmarathon: Vom Frühstückstisch fallen wir direkt in den Auto- oder Bussitz, nur um uns kurz darauf im Bürosessel niederzulassen. Kongruent zu dieser Sitzkultur steigt auch die Anzahl an Menschen, die über wiederkehrende Schmerzen im Schulter- und Nackenbereich klagen. Der Wiener Unfallchirurg und renommierte Schulterspezialist Dr. Roman Ostermann erklärt die Hintergründe dieses Phänomens wie folgt:
„Beim Sitzen nehmen wir häufig automatisch eine gebückte Haltung ein. Durch die Fehlhaltung verkürzen sich die Brustmuskeln, und die Muskulatur zwischen den Schulterblättern wird nicht beansprucht. Wir gehen davon aus, dass diese Dysbalance der Muskulatur eine entscheidende Rolle in der Entstehung von Schulterschmerzen spielen.“
Schulterblätter als Schmerz-Herd
Die Schulter gilt als Dreh- und Angelpunkt unserer Beweglichkeit. Für die größtmögliche Bewegungsfreiheit des Schultergelenks wird dieses hauptsächlich mit Bändern sowie Muskelgruppen gehalten und ist nicht starr knöchern fixiert. „Werden diese Muskeln nicht ausreichend oder ungleich beansprucht, wie es beim Dauersitzen und Arbeiten vor dem Computer der Fall ist, kann dies zu einer muskulären Dysbalance der Schulter führen. Dadurch kann es zu einer veränderten Haltung mit Bewegungseinschränkungen bzw. Fehlbewegung des Schulterblattes kommen, die wir auch Scapuladyskinesie nennen. Eine schmerzhafte Reizung des Schleimbeutels unter dem Schulterdach kann eine der möglichen Folgen sein“, weiß der Schulterexperte.
Moderner Lebensstil führt zu muskulären Dysbalancen
Wer denkt, dass dem veränderten Spannungszustand der Muskulatur vorrangig die Ausübung eines Kraftsports oder anderer sportlicher Betätigungen zugrunde liegen, irrt: Die meisten Fälle haben nichts mit einem falschen, aktivem Muskelaufbau zu tun, sondern sind auf den modernen Lebensstil zurückzuführen. Laut Dr. Roman Ostermann führt insbesondere die Büroarbeit zu einem muskulären Ungleichgewicht: „Gerade wer viel am Schreibtisch arbeitet und den ganzen Tag auf den Bildschirm starrt, eignet sich schnell eine Fehlhaltung an, wenn die Schultern nach vorne fallen und der Kopf nach vorne zum Bildschirm gestreckt ist. Denn die Muskulatur zwischen den Schulterblättern und jene, die diese stabilisiert, wird dabei oftmals ungenügend beansprucht.“
So erkennt man ein Ungleichgewicht der Schulterblattmuskulatur
In vielen Fällen fällt die Asymmetrie der Schulterblätter bereits in der Ruhestellung auf. Oftmals erkennt man diese aber auch erst aufgrund einer unkoordinierten Bewegung der Schulterblätter am Rücken. Um diese leichte Form der Fehlstellung bei seinen Patienten zu erkennen, geht Dr. Ostermann nach einem einfachen Schema X vor: „Um das Ungleichgewicht sichtbar zu machen, führt man einen simplen Test durch. Dieser kann in zwei aufeinanderfolgenden Schritten erkennen, ob die muskuläre Dysbalance eine mögliche Ursache für die bestehenden Schulterschmerzen ist.“
Der Daumen-Test
1. Schiefe Schulterblätter?
Der Betroffene stellt sich oberkörperfrei mit dem Rücken zum Arzt. Der Schulterexperte erklärt den ersten Schritt: „Die unter Schulterschmerzen leidende Person streckt die Arme nach vorne, im rechten Winkel zum Boden, aus. So hat der Arzt die Möglichkeit, die Schulterblätter des Betroffenen gut zu sehen. Sind diese nicht auf gleicher Höhe bzw. ist deren Stellung asymmetrisch, ist die Wahrscheinlichkeit einer muskulären Dysbalance sehr hoch.“
2. In Balance mit dem Daumen
Um sicherzugehen, dass es sich um ein Ungleichgewicht der Muskulatur handelt, gilt es, die Schulterblätter ins Gleichgewicht zu bringen. Zuerst wird der Patient gebeten die Arme nach oben zu heben. Dies führt oftmals zu Schmerzen bei Patienten mit Schulterleiden. Nun platziert der Arzt seinen Daumen unter das Schulterblatt der betroffenen Seite. Mit einem leichten Druck nach vorne oben wird der Patient gebeten erneut die Arme zu heben, dabei wird das Schulterblatt in seiner Bewegung vom Arzt unterstützt. Laut dem Schulterexperten kann das Ergebnis folgendermaßen interpretiert werden: „Spürt die betroffene Person bei Unterstützung des Schulterblattes mittels Daumendruck weniger oder keine Schmerzen mehr, ist dies ein sehr starkes Indiz dafür, dass eine muskuläre Dysbalance zumindest mitverantwortlich für die Schulterschmerzen ist.“
Damit bringt man die Schultermuskulatur ins Gleichgewicht
Sehr häufig können Betroffene die Asymmetrie der Schulterblätter und die damit einhergehenden Schulterschmerzen, selbst korrigieren. Gezieltes Krafttraining, in Absprache mit einem Physiotherapeuten, fördert die symmetrische Wiederausrichtung der Schultern. Bei all jenen, die mit intensivem Training versuchen, dieser Fehlhaltung entgegenzuwirken, verweist der Experte jedoch auf folgendes Problem: „Im Fitnesscenter sieht man viele Hobbysportler, die hauptsächlich die vordere Schultermuskulatur trainieren, die hintere und schulterblattstabilisierende Muskulatur wird häufig vernachlässigt.“
Für die Prävention gilt laut Dr. Ostermann: „Um alle Muskeln und ihre Gegenspieler in einem idealen Kräftegleichgewicht zu halten, ist unter anderem die Einrichtung eines ergonomischen Arbeitsplatzes von enormer Wichtigkeit.“ Er schließt mit einem Tipp speziell für Frauen: „Die einseitige Belastung durch das Tragen von zu schweren Handtaschen kann eine muskuläre Dysbalance fördern. Ein Rucksack entlastet die Schultern hingegen durch die seitengleiche Verteilung des Gewichts gleichmäßig und gilt als gesunde Alternative.“
Über Dr. med. univ. Roman C. Ostermann:
Dr. Roman C. Ostermann ist Facharzt für Unfallchirurgie, Sportarzt und zudem Teamarzt des FK Austria Wien, der Danube Dragons und der DC Vienna Timberwolves. Neben seiner Privat- und Wahlarztordination in dem Kompetenzzentrum für Sport- und Gelenksverletzungen „Die Praxis“ ist er seit 2017 als Oberarzt an der 2. Orthopädischen Abteilung im Herz Jesu Krankenhaus Wien tätig. Der fachliche Schwerpunkt liegt vorwiegend in der Schulter- und Kniechirurgie sowie der arthroskopischen und minimal invasiven Behandlung von Sport- und Gelenksverletzungen. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit entwickelt Dr. Ostermann auch neue Operationsmethoden, darunter die bereits etablierte Labral Bridge-Methode. https://ostermann.doctor/
Fotos: Dr. Roman C. Ostermann © Dr. Roman Ostermann; Titelbild: Ein Büroangestellter bringt es während seinen Berufslebens im Schnitt auf 80.000 versessene Stunden © Unsplash; weitere: Eine Asymmetrie der Schulterblätter lässt sich oft schon bei ausgestreckten Armen des Patienten erkennen © Dr. Roman Ostermann; Leichte muskuläre Dysbalancen können mit dem Daumen-Test bestimmt werden © Dr. Roman Ostermann; Mit gezieltem Krafttraining können die Muskeln wieder in Balance gebracht werden © Pexels