„Auf den ersten Blick völlig ungeeignet für die Detektivarbeit“
Leonie Swann über skurrile Ermittler, englische Hundenamen und die Grenzenlosigkeit der Phantasie
1. Frau Swann, in Ihren Kriminalromanen lösen sehr ungewöhnliche Ermittlerteams die Mordfälle. In „Glennkill“ war es eine gewitzte Schafherde, in „Gray“ ein Uni-Dozent mit einem gesprächigen Papagei und in Ihrem neuen Buch macht eine Senioren-WG der Polizei Konkurrenz. Worin besteht der detektivische Charme der Bewohner*innen von „Sunset Hall“?
Ich mag vor allem, wie ungeeignet die ganze Bande auf den ersten Blick für die Detektivarbeit zu sein scheint. Agnes hört nicht gut und ist ausgesprochen schlecht zu Fuß, der Marschall hat ernstzunehmende Erinnerungslücken, Bernadette ist blind, Winston sitzt im Rollstuhl und Edwina ist zwar körperlich fit, lebt aber geistig in Wolkenkuckucksheim. Nicht gerade das ideale SWAT-Team!
Aber wenn man genauer hinguckt, merkt man, dass diese Rentner-WG doch einiges auf dem Kasten hat. Die meisten von ihnen haben in der Vergangenheit bei der Polizei oder beim Militär gearbeitet (so haben sie sich kennengelernt) und zeichnen sich darüber hinaus durch ihre große Hartnäckigkeit und Entschlossenheit aus. Und natürlich hilft ihnen auch die Tatsache, dass sie von aller Welt unterschätzt werden, bei der Mörderjagd.
Am reizvollsten finde ich aber, wie diese sehr verschiedenen Menschen trotz aller Kabbeleien zusammenhalten, Probleme gemeinsam lösen und sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Da kann man sich die eine oder andere Scheibe abschneiden!
2. Ihr literarischer Erstling, der Schafskrimi „Glennkill“, eroberte vor 15 Jahren die Bestsellerlisten. Für den Fortsetzungsroman „Garou“ haben Sie sogar ein Schäferpraktikum in Frankreich gemacht. Wie sah die Vorbereitung auf „Mord in Sunset Hall“ aus?
Egal wie viel Recherche ich betreibe, der erste Schritt in meine Romanwelt ist für mich immer eine Art Gedankenspiel. Was wäre wenn? In diesem Fall also: Was, wenn ich selbst gebrechlich und schlecht zu Fuß wäre und mich auf einmal mit einem Mord konfrontiert sähe? Wie würde ich die Sache angehen? Welche Möglichkeiten hätte ich? Was wäre mir wichtig? Wovor hätte ich Angst?
Darüber hinaus habe ich aber auch wissenschaftlich recherchiert und auf meine eigenen Erfahrungen mit alten Menschen zurückgegriffen: meinen Großeltern, die zuletzt leider alle in Heimen waren, einigen meiner Nachbarn. Es ist mir natürlich wichtig, meine Phantasie mit Fakten zu unterfüttern. Aber in erster Linie geht es für mich immer um Emotionen – wenn man sich etwas nicht vorstellen kann, nützen die ganzen Fakten auch nichts.
3. Tiere spielen immer eine wichtige Rolle in Ihren Geschichten. Nach Schafen, Papageien und Flöhen haben nun eine eigensinnige Schildkröte und ein quirliger Wolfshund ihren Auftritt. Was macht tierische Protagonisten so reizvoll für Sie?
Es wird nur wenige Leute überraschen zu hören, dass ich einfach ein großer Tierfreund bin. Tiere sind unser Bindeglied zur Natur, sie stehen uns so nah und sind gleichzeitig so anders, sie sind überraschend, unberechenbar, echt, lustig und emotional – und damit hervorragende Romanhelden.
Darüber hinaus sind Tiere in ihrer ausdrucksvollen Sprachlosigkeit auch wundervolle Projektionsflächen, die nicht nur meinen Protagonisten, sondern auch den Lesern den Spiegel vorhalten können.
4. Duck End ist ein ländliches Idyll, in dem ziemlich haarsträubende Dinge passieren. Ist die Provinz ein perfekter Krimischauplatz?
Im Prinzip lässt sich natürlich überall gut morden, aber gerade für einen eher heiteren, humorvollen Krimi bietet das Landleben einen wundervollen Hintergrund. Hier kennt jeder jeden, kleine Ereignisse ziehen weite Kreise und selbst schauerliche Morde kommen malerisch daher, wenn sie sich vor idyllischer Kulisse abspielen.
Landmorde in der Tradition von Agatha Christie haben für mich einen ganz besonderen Charme, weil sie neben Spannung auch so etwas wie Behaglichkeit verbreiten.
5. Sie wohnen selbst in Großbritannien. Was schätzen Sie am Leben auf der britischen Insel?
Da hat sich natürlich in den letzten Jahren einiges verändert, und ehrlich gesagt weiß ich noch nicht, ob mir die Richtung, in die sich das Land gerade entwickelt, besonders gefällt. Eher nicht.
Aber ich lebe auf dem Lande in der Nähe von Cambridge, und in diesem Mikrokosmos merkt man von den großen gesellschaftlichen Umwälzungen noch wenig. Mein Dorf ist wirklich ein Idyll. Ich mag die Tatsache, dass man hier so schräg sein kann, wie man möchte, ich mag die Natur und Cream Tea, alte Herrenhäuser und zauberhafte Gärten. Ich mag die Glockenblumenwälder im Frühling und das gelehrsame Treiben in Cambridge.
Vor allem aber mag ich die Sprache.
Ich denke, im Grunde geht meine Liebe zu Großbritannien auf Leseerlebnisse in meiner Jugend zurück. Da habe ich die ganzen Klassiker erstmals im Original verschlungen: Jane Austen, Wilkie Collins, Charles Dickens, die Brontës, Hardy, Thackeray… Und nun, da ich hier lebe, hallt das alles nach. England ist für mich das Land der Geschichten!
6. Einen kleinen ironischen Schlenker zum politischen Geschehen macht das Buch ebenfalls: Der WG-Hund heißt ausgerechnet Brexit. Was lassen Sie mit dieser Namenswahl durchschimmern?
Hier geht es darum, den aktuellen Dingen neue Blickwinkel abzugewinnen. Brexit, wiewohl ein sehr zweifelhafter Sachverhalt, kann noch immer einen hervorragenden Hundenamen abgeben!
7. Die Charaktere von „Sunset Hall“ sind liebevoll gezeichnet, allen voran die patente Agnes Sharp, die sich trotz ihres Hüftleidens mit vollem Einsatz in die Ermittlungen stürzt. Was war Ihnen bei der Figurengestaltung wichtig?
Ich war sehr darauf bedacht, dass meine Figuren, wiewohl scharf gezeichnet, nicht als Karikaturen enden. Ich wollte das Alt-Sein weder schönreden noch lächerlich machen, und bei allem Humor respektvoll damit umgehen. Das war mir so wichtig, dass ich sogar ein paar betagte „Testleser“ um Feedback gebeten habe, um sicherzustellen, dass nichts im Text als taktlos wahrgenommen wird.
Und natürlich geht es mir auch immer darum, runde, komplexe Romanhelden zu erfinden: Leute mit vielen Facetten, die nicht einfach vor allem „alt“ sind. Es geht immer darum, das allgemein Menschliche durchschimmern zu lassen. Das, was uns alle verbindet.
8. Das selbstverwaltete Wohnprojekt „Sunset Hall“ wirkt wie eine Villa Kunterbunt für Senior*innen – etwas chaotisch zwar, dafür aber ein wahres Zuhause. Das örtliche Altersheim Lindenhof hingegen verströmt die Aura einer Verwahranstalt. Welche Denkanstöße möchten Sie Ihren Leser*innen zum Thema Lebensabend mitgeben?
Jeder von uns wird irgendwann alt sein – wenn er Glück hat. Trotzdem denken die meisten Menschen über diesen Lebensabschnitt nur ungern nach. Ich habe versucht, mich da auf eine Gedankenreise zu begeben und mir ehrlich zu überlegen, was mir im Alter wohl wichtig wäre. Das ist sicher nur bis zu einem gewissen Grade vorstellbar, denn niemand kann so ganz nachvollziehen, was alles passiert, wenn Körper und Geist irgendwann auf dem Rückzug sind.
Aber man kann sehr einfach beobachten, dass eines der großen Probleme, mit dem viele Leute im Alter zu kämpfen haben, die Einsamkeit ist. Freunde und Partner sind oft schon verstorben, die Familie verstreut. Sunset Hall ist ein Gegenentwurf zu dieser Alterseinsamkeit: eine WG, in der sich Senioren gegenseitig unterstützen und gemeinsam den Laden schmeißen. Das geht natürlich nur, wenn man bereit ist, sich noch einmal auf andere Menschen einzulassen. Das ist die Stärke meiner Figuren: Sie sind sehr frei im Kopf und scheuen sich nicht davor, neue Wege zu gehen. Dabei haben sie ihr Schicksal ein Stück weit selbst in der Hand.
Der Lindenhof dagegen ist ein Ort, wo die körperliche Versorgung zwar gewährleistet ist, Autonomie und Initiative aber an der Eingangspforte abgegeben werden. Davor hätte ich persönlich Angst. Ich möchte hier wirklich nicht Pflegeheime angreifen, von denen sicher viele wundervolle und wichtige Arbeit leisten – doch meine Idealvorstellung vom Alter sieht anders aus.
Eine Utopie? Vielleicht. Aber wozu sind Bücher gut, wenn nicht dazu, im Kopf Dinge einfach einmal auszuprobieren.
9. Können Sie uns noch verraten, ob Sie schon an neuen Projekten arbeiten?
Allerdings! Und es würde mich ganz und gar nicht überraschen, wenn der Leser den Bewohnern von Sunset Hall bald wieder begegnet!
Leonie Swann, „Mord in Sunset Hall“ erscheint am 25. Mai 2020 bei Goldmann.
Das Interview führte Annika Kindermann.
© Goldmann Verlag; Portraitfoto Swann © Mark Bassett; Titelbild – Bild von photosforyou auf Pixabay