Die Form und Farbe der Lippen – und damit der Lippenstift – waren schon immer auch ein Stimmungsbarometer und Ausdruck des Lebensgefühls einer ganzen Ära. Das galt für die letzten hundert Jahre und scheint auch für die Zukunft zu gelten. „Welche Lippenform gerade in ist, hängt stark von der Rolle der Frau in der jeweiligen Epoche ab. Im Barock schminkte man sich gerne mal einen herzförmigen Mund“, erklärt Li Edelkoort, eine der weltweit renommiertesten Trendforscherinnen, die selbst zur Stilikone wurde. „Heute haben wir tatsächlich alle 10 Jahre mehr oder weniger auffällige Lippenstift-Trends. Mal schmaler, mal breiter, mal akzentuierter mit richtigen Kanten, mal etwas großzügiger.“ Wie sich Lippenformen und die Farbe des Lippenstifts im Laufe der Jahrzehnte verändert haben, sehen Sie hier:

1920: Emanzipation, Prohibition und Rebellion

Charleston, Kurzhaarfrisuren, glitzernde Kleider machten den Stil der jungen Frauen in den Goldenen Zwanzigern aus. Zu den künstlich gewellten Haaren schminkte man sich einen verführerischen herzförmigen Mund in mattem Rot. Der Look war eine Mischung aus kokett und leicht verrucht. Die Frauen emanzipierten sich, gingen nachts aus, tranken schwarzgebrannten Whisky und tanzten Charleston. Gerne präsentierte sich die Dame von Welt mit einer langen Damenzigarette. Auch der Schwarzweiß-Film brachte den Film-Mund in den gewagtesten Formen hervor, da man die Farbe ja nicht sehen konnte: den „Amorbogen“ von Clara Bow, die „Vamp-Lippen“ von Theda Bara und den „Bienenstich“ von Mae Murray. Die Lippenfarben der 1920er reichten von Schwarz bis Granatrot.

1930: Die Zeit der Depression und Androgynität

Das Verspielte der 1920er Jahre machte einer neuen Strenge mit klaren, geraden Formen Platz. Perfektionistisch und kühn war die Linie. Ein nach außen gezogener, mit eckigen Kanten geformter Mund steht für den Look der nüchternen 1930er Jahre. Es war eine Zeit der Entbehrung und Sparsamkeit. Stilikonen waren Greta Garbo und Marlene Dietrich. Erstmals besann man sich auf den starken Willen, die Durchsetzungsfähigkeit und die Individualität von Frauen. Sie durften eigene Ideen durchsetzen und ihr Schicksal selbst bestimmen. Weite Marlene-Hosen und Blazer unterstrichen die androgyne Tendenz der Zeit. Gleichzeitig war wichtig, dass Frauen in aller Herbheit und Kühne trotzdem bildschön waren – oder sein sollten. Mit dramatischen Lidstrichen und exakt gezupften schmalen Augenbrauen wurde daher nachgeholfen. enorm nachgeholfen. Der Teint war porzellanhaft blass und edel. Die angesagteste Lippenfarbe für den perfekten Dreißiger-Jahre-Look war ein seidig-glänzendes Braunrot.

1940: Der zweite Weltkrieg, eine Zeit der Entbehrung und Stärke

Der zweite Weltkrieg brachte harte Zeiten voller Entbehrungen mit sich – und die Frauen sehnten sich nach den schönen Dingen: Düfte, Strumpfhosen und Lippenstifte waren Mangelware. Aber wer eines dieser Luxusgüter besaß, benutzte es auch. Die Lippen wurden wieder voller und weiblicher geschminkt. Ein mit symmetrischen Bögen geformter Mund repräsentierte den mutigen, selbstbewussten Look der entbehrungsreichen 1940er Jahre. Kein Wunder, denn die Frauen waren auf sich gestellt und stemmten alleine den harten Alltag, während die Männer ihr Land auf dem Schlachtfeld verteidigten. Auf der Hollywood-Leinwand sah man starke Frauen mit eigenwilligem Charakter: Rita Hayworth, Joan Crawford, Bette Davis und Katherine Hepburn spiegelten das neue Gefühl für die eigene Stärke wider. Der Lippenstift war mehr als nur ein Schminkutensil. Er wurde zum Instrument persönlicher Moral, der Leid kaschiert und Stärke signalisiert. Die Lippenfarbe der 40er Jahre war ein kräftiges, lackiges Zinnoberrot.

1950: Die Nachkriegszeit bringt neuen Aufschwung

Üppig und verführerisch, statt zurückhaltend: Die Frauen der 1950er Jahren wollten den Krieg hinter sich lassen, ein gemütliches Heim und klare Rollenverteilung. Was wir heute an den Werbespots der Fünfziger belächeln, war eine Gegenbewegung zu den harten Kriegsjahren. Ein über die natürliche Lippenlinie gezeichneter Mund gab daher den Ton für die Zeit des Wiederaufbaus an. Gleichzeitig symbolisierte der weibliche, verführerische Look die Ambivalenz der Frauen: Einerseits kämpften sie für ihre im Krieg errungene Unabhängigkeit und gegen die klassische Frauenrolle, andererseits sehnten sie sich nach Behaglichkeit, einem trauten Heim und klar definierten Aufgaben. In den 1950er Jahren gibt es daher zwei sehr gegensätzliche Identifikationsfiguren: Marylin Monroe und Audrey Hepburn. Die eine steht für Üppigkeit und passive Weiblichkeit, die andere ist ein verspieltes, scheues, fast knabenhaftes kokettes Reh. Die Lippenfarben der Fünfziger waren auffallend und feminin, wie leuchtendes Rot oder Pink.

1960: Die Zeit der Extreme und Kontraste

Woodstock, Flower-Power, die sexuelle Revolution, die Entdeckung des Weltalls – die Sechziger waren turbulent und voller Umbrüche und Neuanfänge. Der rebellische Hippie-Look wird begleitet von einem vollen, weichen Schmollmund. Man ließ sich nicht mehr alles gefallen und stellte vieles in Frage. Die Schönheitsideale der 1960er waren ebenfalls widersprüchlich: Während Brigitte Bardot noch für voluminöse Haare, dramatische Augen und Weiblichkeit stand, verkehrte Twiggy dieses Frauenbild. Ihr magersüchtig-jugendlicher Chic setzte einen Gegenpol zum bis dahin gefragten Bild der Frau als Sexsymbol. Als Zeichen der Ablehnung von pauschalisierter Schönheit, Wohlstand und Konsum wurden eher blasse und unauffällige Lippenstiftfarben gewählt: perlmuttschimmerndes Beige, Babyrosa und Silber bis Weiß.

1970: Die schillernde Disco-Zeit

Die 1970er Jahre waren bunt, schillernd und ein bisschen verrückt: Saturday Night Fever, Studio 54, die Bhagwan-Kommune und farbige Soul-Diven wie Gloria Gaynor und Diana Ross bestimmten das Jahrzehnt. Zum Disco-Look aus Glitzerkostümen, Schlaghosen und Plateausohlen passte ein klar konturierter, glänzender Mund. Frauen wurden wieder selbstbestimmter, emanzipierter, studierten, verzichteten auf den Trauschein, waren alleinerziehend und brachen mit den Konventionen. Dementsprechend selbstbewusst war auch die Lippenstiftfarbe der Siebziger: Purpur oder Burgunderrot, glitzernd und auffallend. Die Lippen mussten aber nicht voll sein. Stars wie Farrah Fawcett verkörperten den neuen Look der sportlich-schlanken, strahlenden Blondine.

1980: Von Punk-Look bis Madonna

Punk war in – ein dunkler, breiter Mund stand für eine neue, aufregende Zeit und den provokanten Punk-Look der 1980er Jahre. Frauen wollten keinesfalls attraktiv oder süß sein und als Sexualobjekt gesehen werden, sondern provozieren. Punk wurde zur Anti-Schönheits-Bewegung, mit dabei die Extravaganz von Pop-Idol Boy George und die Mode von Vivienne Westwood und Malcolm MacLaren. Emanzipierte Frauen wie Madonna oder Annie Lennox symbolisierten androgyne Schönheit und wurden zum Vorbild für viele Frauen. Die 1980er sind geprägt von Neonfarben und hochtoupierte Haare. Sowohl Männer als auch Frauen trugen lange Mähnen – allerdings vorne kurz, hinten lang: Vokuhila. Dem Punk-Look entsprechend wurden die Lippenfarben in den Achtziger Jahren eher dunkel gewählt, sogar Schwarz mit Metallic-Effekt war en vogue.

1990: Techno und die Zeit des Individualismus

Mobiltelefone, Internet, Spaß- und Konsumgesellschaft, Techno und die Fitness-Welle bestimmen die 1990er Jahre, ein Jahrzehnt des Kommerzes. Es gab nicht mehr so eindeutige Trends wie in den Jahrzehnten davor. Man verabschiedete sich vom Modediktat, suchte neue Freiheiten und Individualität. Diese wurden in verschiedensten Bereichen ausgelebt: Tattoos, Piercings, Hip-Hop-Style in Musik und Mode. Besonders die Mode war geprägt vom immer schneller werdenden Wechsel – alles war erlaubt. Die elektronische Musik eroberte die Welt – und mit ihr die Digitalisierung. Der Lippenstift war in dieser Zeit nicht besonders wichtig, gehörte aber zum Leben dazu. Ein natürlich ausgemalter, sauber konturierter Mund in glänzend oder matt unterstrich den individuellen Look der 90er. Stars wie Julia Roberts mit ihrem tollen, großen Mund, Demi Moore, Meg Ryan oder Britney Spears repräsentierten völlig unterschiedliche Frauentypen. Wenn es einen Trend gab, dann war es der, dass die Lippenfarbe Braunrot ein Revival feierte und in vielen verschiedenen Nuancen neu aufgelegt wurde. Aber auch jede andere Farbe von dunkel bis hell war gefragt. 


2000: Das neue Millennium und die Suche nach Harmonie

„Cocooning“ heißt das Schlagwort für die Jahrtausendwende, die mit Besorgnis und Unsicherheit einherging. Man besann sich wieder auf traditionelle Werte wie Familie und Freunde, verlieh inneren Werten mehr Bedeutung. In den 2000ern herrschte ein Wunsch nach Harmonie vor, der auch vor der Mode keinen Halt machte: Sie wurde einfacher, reduzierter und sportlicher. Die Form und Farbe der Lippen folgte dieser natürlichen Linie. Sanfte, zarte Farben standen im Vordergrund. Pastellige, zart schimmernde Töne von Beige, Rosa und Apricot, so genannte Non-colours, unterstrichen die Natürlichkeit der Trägerin und symbolisierten den Trend nach Rückbesinnung und der Suche nach Zukunftsorientierung. Wer sich den Mund kräftig Rot schminkte, fiel in dieser Zeit schon sehr auf.

2010: Volle Lippen sind das A und O

Volle Lippen waren in den 2010ern so gefragt wie nie zuvor. Kaum jemand hat von Natur aus einen Mund wie Angelina Jolie, aber verfolgt wurde dieses Ideal trotzdem. Bei mangelnder Fülle helfen Stars und Sternchen also nach, wo es nur geht und mit was auch immer es geht. Es wird aufgespritzt, geschröpft, gebürstet und mit Permanent-Make-up gemogelt. Im Alltag und unter den Normalos spielt dieser Trend hingegen kaum eine Rolle. Im Gegenteil, die meisten Leute finden aufgespritzte Lippen fürchterlich, man spricht nicht umsonst von „Schlauchbootlippen“, die an geschwollene Lippen nach einem Bienenstich erinnern.

2020: Und was wird die Zukunft bringen? 

Li Edelkoort: „Die Geschichte wird sich immer wieder wiederholen. Bezogen auf den Lippenstift werden helle Nude-Töne auch weiterhin den Wunsch nach Entschleunigung und Nachhaltigkeit symbolisieren. In den 2020er Jahren werden definitiv wieder dünnere Lippen Trend sein. Eventuell könnten sich auch Lippen in einem perfekten Rot durchsetzen, die die Gewichtung und Proportionen zwischen den Augen, den Lippen und der Silhouette harmonisch ausbalancieren – klares Signal einer Ära der Post-Rezession und des gesellschaftlichen Neuaufbaus.“


Text: Anna Karolina Stock
Quelle/Illustrationen: beautypress
Fotos: Arabesque, Hersteller